Sprache ist unumstritten das, was den Menschen zum Menschen macht. Denn was ihn in erster Linie vom Tier unterscheidet – obwohl unser genetischer Code mit jenem von Schimpansen zu 99 Prozent ident ist –, ist der stete Wortstrom, der dem Homo sapiens zwischen den Lippen hervorquillt. Doch Sprache zeichnet uns nicht nur als Spezies aus. Sie hat kulturelle, soziale und psychologische Implikationen für unser Verhalten. Kurz: Je nachdem, welche Sprache wir sprechen, fühlen wir in derselben Situation unterschiedlich. Und das können wir uns aktiv zunutze machen.
Japanische Unvollkommenheit und österreichische Gemütlichkeit
Kultur prägt Sprache. Und Sprache prägt Kultur. Nordische Völker kennen zig Ausdrücke für Schnee – je nachdem, wann und in welcher Konsistenz er fällt, aus welcher Richtung und welches Geräusch er unter den Füßen macht. In der indigenen Sprache der Aborigines gibt es kein Wort für „links“ und „rechts“, denn Ortsangaben folgen stets den Himmelsrichtungen. Die deutsche „Gemütlichkeit“ lässt sich in kaum eine andere Sprache so übersetzen, dass dasselbe wohlig-warme Gefühl dabei aufkommt. Und das japanische Wabi-Sabi wiederum beschreibt die Schönheit, die in der Imperfektion liegt. Was all diesen sprachlichen Eigenheiten gemein ist? Sie beeinflussen aktiv, wie wir denken und was wir dabei fühlen.
Energy goes …
… where attention flows. Oder anders ausgedrückt: Worauf wir uns konzentrieren, dorthin schicken wir unbewusst auch unsere Energie. Und dabei hilft oder hindert uns manchmal die eigene Sprache. Um bei den Beispielen von vorhin zu bleiben: Völker, die statt links und rechts die Himmelsrichtungen verwenden, haben einen weitaus besseren Orientierungssinn. Ihre Sprache bedingt, dass sie früh lernen, sich in der Natur zu orientieren. Die österreichische Gemütlichkeit schlägt sich sichtbar auch aufs Gemüt nieder. Und der japanische Zugang, dass kleine Fehler nicht nur verzeihlich, sondern erwünscht sind, sorgt für mehr Gelassenheit und Akzeptanz im Alltag. In der Sprachwissenschaft nennt man dieses Phänomen die linguistische Relativität. Sprache, deren Wortschatz und kulturelle Botschaften formen unbewusst unser Denken. Wenn Sie mehrere Sprachen beherrschen, hilft Ihnen das jedoch auch im eigenen Sprachkreis weiter.
In Fremdsprachen streiten
Die eigene Muttersprache trifft uns oft viel unmittelbarer als Fremdsprachen. Um herauszufinden, ob das auch auf Sie zutrifft, können Sie ein einfaches Gedankenexperiment durchführen. Stellen Sie sich eine Situation vor, in denen Sie sich von jemandem beleidigt oder angegriffen gefühlt haben. Und nun lassen Sie dieselben Aussagen zum Beispiel in Englisch ablaufen. Spüren Sie einen Unterschied?
Sprache, Distanz und Perspektive
Eine Fremdsprache schafft Distanz, wir nehmen Dinge nicht so persönlich und schaffen es eher, unsere Emotionen zu regulieren, weil es uns nicht so im Inneren trifft. Dieses Phänomen mache ich mir zunutze, wenn mich eine Situation aufregt und ich den unangenehmen Emotionen einen Riegel vorschieben möchte. Ich lasse die Situation im Kopf einfach in einer anderen Sprache ablaufen und schaffe so Distanz zu negativen Gefühlen. Das hilft, sachlich zu bleiben und nicht persönlich zu werden. Zudem zeigen Studien, dass Menschen, die bilingual aufwachsen oder mehrere Sprachen gut beherrschen, mehr Perspektiven zum gleichen Thema einnehmen können. Da Sprachbilder oft kulturelle Wertvorstellungen transportieren, schwingen diese Zuschreibungen auch beim Denken und Reflektieren in der jeweiligen Sprache mit. Das gilt also sowohl fürs Streiten als auch fürs Lösen von Problemen im Allgemeinen.
Sprache schafft Charakter
Unser Gehirn erstellt ständig neue Pfade und Verbindungen. Was die Wissenschaft als Neuroplastizität bezeichnet, macht sich auch die Verhaltenstherapie zunutze. Vielleicht kennen Sie den berühmten Kalenderspruch „Aus Gedanken werden Worte, aus Worten werden Taten“. Was etwas flach daherkommt, hat seinen Ursprung im Talmud, einem der wichtigsten Texte im jüdischen Glauben und verknappt ausgedrückt das Praxisbuch für würdevolles Leben, abgeleitet von biblischen Schriften. Der Kern der Aussage lautet: Sprache schafft Charakter. Und das geht so: Je öfter wir einen Gedanken denken, desto präsenter wird er in unserem Leben. Sie erinnern sich? Die Energie fließt dorthin, wohin sich unsere Aufmerksamkeit wendet. Auch das liegt an der Neuroplastizität unseres Gehirns. Denn jene Pfade, die unsere Gedanken öfter abschreiten, werden durch die Wiederholung zu vierspurigen Autobahnen. Und was hat das jetzt mit Wohlbefinden zu tun?
Sprache und bewusste Beeinflussung
Was wir denken und wie wir uns dabei fühlen, hat einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Je öfter wir einen Gedanken hegen, desto eher sprechen wir ihn einmal aus. Kennen Sie das, wenn man eine Wahrheit schon lange mit sich herumträgt, sie aber erst dann wirklich wahr wirkt, wenn wir sie aussprechen? Wer schon mal Schluss gemacht hat, weiß, wie das ist. Genauso verhält es sich auch mit anderen Gedanken, die nichts mit Herzschmerz zu tun haben. Je öfter wir etwas denken, desto eher sagen wir es. Je öfter wir etwas sagen, desto eher glauben wir es und handeln schlussendlich danach. Und je öfter wir nach etwas handeln – desto eher wird aus diesem Etwas ein handfester Charakterzug, der sich täglich in Taten niederschlägt. Und zack – sind wir wieder schnurstracks bei mehr oder weniger gesunden Routinen.
Von der Sprache zum Alltagsanker
Routinen haben die Macht, unseren Alltag so positiv zu beeinflussen wie kaum etwas anderes im Leben. Und das beginnt beim Denken und beim bewussten Einsatz der Sprache – welche immer Sie auch sprechen mögen. Stellen Sie sich nach dem Aufstehen folgende Fragen: Wofür bin ich heute dankbar? Worauf bin ich heute stolz? Wem möchte ich heute eine Freude machen? Je nachdem, welche Sprache Sie sprechen, schwingt bereits bei diesen Fragen eine unterschiedliche Stimmung mit. Beantworten Sie diese Fragen laut oder einfach gedanklich. Meine Post-its kleben neongrün am Spiegel und schauen mir beim morgendlichen Zähneputzen zu. ich kann gar nicht anders, als mir darüber meine Gedanken zu machen. Und bereits diese drei Fragen beeinflussen meinen Start in den Tag. Denn sie geben einen Grund, sich sprachlich im Jetzt zu verankern (Dankbarkeit), über Vergangenes zu reflektieren (Stolz) und sich auf die Zukunft und andere zu freuen (Freude bereiten). Das Spannende ist: Es gibt jeden Tag andere Gründe, sich zu freuen, dankbar zu sein oder jemandem eine Freude zu machen. Und wenn Ihnen das anfangs schwerfällt, denken Sie an die Worte, die mein Klavierlehrer wöchentlich mit unendlich dickem Geduldsfaden in mein Übungshaft geschrieben hat: „Was du oft machst, machst du irgendwann gut.“