Wonach klingt Wabi-Sabi für Sie? Wenn Sie dabei an Japan denken, liegen Sie schon mal richtig. Haben Sie jetzt allerdings ein Bild der grünen Meerrettichpaste vor Augen, die neben Sojasauce zum Sushi nicht fehlen darf, liegen Sie falsch. Wasabi schmeckt gut – vorausgesetzt, man mag scharfes Essen, Wabi-Sabi tut gut – wenn man den Anhängern dieser Philosophie glaubt. Warum man das getrost tun darf, was alles hinter dem Begriff steckt und wie wir das Konzept in unser Leben integrieren können, verraten wir Ihnen heute.
Was bedeutet Wabi-Sabi?
Dem Begriff „Wabi-Sabi“ auf die Spur zu kommen, ist zunächst nicht ganz einfach. Das liegt schon allein daran, dass es für beide Wörter nur sinngemäße Übersetzungen ins Deutsche gibt. „Wabi“ steht für Einsamkeit, aber auch Schlichtheit und Anmut. Hinter dem Wort „Sabi“ stecken Vergänglichkeit und Altern, aber auch die Reife, die mit dem Älterwerden einhergeht. Einsamkeit und Altern würden wir auf den ersten Blick wohl eher nicht mit etwas Positivem verbinden. Vielleicht mögen Sie aber, so wie ich, japanische Romane und Filme und wissen daher schon, dass in der Kultur des kleinen fernöstlichen Landes alles ein bisschen anders ist. Auch wenn vieles im ersten Moment sogar ein wenig befremdlich wirken kann, vermag die japanische Kultur mich doch immer wieder zu verzaubern. Und als ich mich zum ersten Mal mit Wabi-Sabi beschäftigt habe, war es nicht anders.
Und was bedeutet Wabi-Sabi genau?
Das Konzept, das hinter Wabi-Sabi steckt, hat sich in Japan bereits im 16. Jahrhundert etabliert. Seither liegt es nicht nur der Art und Weise, wie man in Japan Kunst betrachtet und bewertet, zugrunde, sondern hat sich auch zu einer Lebensphilosophie und neuerdings auch zu einem Wohntrend entwickelt. Wie die drei Bereiche zusammenpassen können, wird anhand dieser Definition von Wabi-Sabi schon besser vorstellbar: Vereinfacht gesagt geht es beim Wabi-Sabi darum, in einfachen, schlichten und unperfekten Situationen und Dingen, die bereits von den Spuren der Zeit gezeichnet sind, die verborgende Schönheit zu erkennen.
Warum jetzt?
Sie fragen sich vielleicht, warum gerade jetzt der richtige Zeitpunkt sein soll, um sich mit einer Philosophie zu beschäftigen, die seit über 500 Jahren existiert. Dabei ist der Gedanke, Unvollkommenheit zu akzeptieren und sogar schön zu finden, heute aktuell wie schon lange nicht mehr. Schließlich sind Begriffe wie Entschleunigung und Achtsamkeit, Nachhaltigkeit und weniger Konsum, Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Gelassenheit derzeit in aller Munde. Und mit all diesen Begriffen lässt sich die Philosophie des Wabi-Sabi wunderbar verbinden.
Wabi-Sabi für die Seele
Mehr Gelassenheit im Alltag, mehr Liebe für uns selbst – wünschen wir uns das nicht alle? Ständig sind wir auf der Jagd nach Perfektion. Wir wollen den perfekten Körper, das perfekte Outfit, im Job und selbst in der Freizeit soll alles genauso laufen wie nach Plan. Aber leider hält sich das Leben nicht immer an unsere mühevoll ersonnenen Pläne. Es gibt Dinge, die wir einfach nicht beeinflussen können, und Dinge, die nicht immer reibungslos vonstattengehen.
Gar nicht so einfach, dabei immer die Ruhe zu bewahren, oder? Mir zumindest fällt das oft schwer. Rückblickend betrachtet stelle ich aber immer wieder fest, dass auch schwierige Situationen oft ihr Gutes haben, und dass ich immer dann, wenn auf dem geplanten Weg Hindernisse lagen, am meisten gelernt habe. Seit ich zum ersten Mal etwas über Wabi-Sabi gelesen habe, versuche ich, solchen Situationen so gelassen wie möglich zu begegnen. Vielleicht läuft es gerade nicht perfekt, aber gibt es nicht trotzdem auch schöne und positive Aspekte, auf die ich mich konzentrieren kann? In den allermeisten Fällen lautet die Antwort „Ja!“.
Was für unsere Lebensumstände gilt, trifft auch auf unser Aussehen zu. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nach den Lehren des Wabi-Sabi völlig gehen lassen sollten. Aber vielleicht lohnt es sich, hin und wieder dem ständigen Streben nach Vollkommenheit ein wenig Einhalt zu gebieten. Meinen Sie nicht auch? Hinter der Narbe, die Sie vor dem Spiegel immer wieder stört, steckt vielleicht eine interessante Geschichte, die Sie geprägt hat. Und die Fältchen um die Augen kommen vielleicht vom Lachen in vielen schönen Momenten, an die Sie sich gerne zurückerinnern. Schönheit ist immer eine Frage der Betrachtungsweise. Lernen wir, uns und unser Leben so anzunehmen, wie sie sind: perfekt unperfekt! Wer hingegen an den eigenen Lebensumständen grundlegend etwas ändern will, für den hält die japanische Kultur ein anderes interessantes Konzept bereit: Ikigai.
Wabi-Sabi für die eigenen vier Wände
Die Prinzipien des Wabi-Sabi lassen sich auf unser Zuhause anwenden. In unserer Wohnung oder unserem Haus wollen wir uns wohlfühlen. Aber muss dafür immer alles neu und makellos sein? Wenn man den Lehren des Wabi-Sabi folgt, lautet die Antwort „Nein!“. Die gute Nachricht für alle, die Lust haben, Wabi-Sabi auch in die Einrichtung einfließen zu lassen: Sie brauchen für diesen Wohntrend nicht viel. Ganz im Gegenteil geht es darum, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Der erste Schritt zum Wabi-Sabi-Wohnzimmer ist also das Ausmisten. Bleiben dürfen alle Möbelstücke und Gegenstände, die einen Zweck erfüllen und wirklich Freude machen. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass auch nur neu gekauft wird, was seinen Zweck nicht mehr erfüllt. Gebrauchsspuren, Kratzer, abgeblätterte Farbe – das alles muss kein Grund für eine Neuanschaffung sein. Schließlich hauchen erst diese vermeintlichen Makel den Dingen Leben ein und verleihen ihnen einen individuellen Charakter. Gleichzeitig vermeiden wir so übermäßigen Konsum und materielle Überfrachtung und setzen einen wichtigen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit. Eine minimalistischere Einrichtung sorgt automatisch für mehr Ruhe und Harmonie. Damit die Gemütlichkeit nicht zu kurz kommt, setzen Sie auf natürliche Materialien und Formen, sanfte und zurückhaltende Farben und warmes Licht. Für pure, entschleunigte Entspannung fehlt jetzt nur noch eine Tasse Tee. Inspiration für internationalen Teegenuss finden Sie hier.
Und schon kann es losgehen mit dem Wabi-Sabi Way of Life.
Sie möchten noch mehr über die japanische Lebensphilosophie erfahren?
UNSERE BUCHTIPPS:
- Beth Kempton: Wabi Sabi. Die japanische Weisheit für ein perfekt unperfektes Leben. 2019
- Leonard Koren: Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer. 2017