Das Gefühl, ab und zu „mehr Glück als Verstand“ gehabt zu haben, kennt wohl jeder von uns. Nicht immer schreiben wir kleine und große Erfolge unserem Können zu. Aber wenn’s chronisch wird, sollten wir genauer hinsehen.
Hochstapeln als Krankheitsbild
Der Impostor – zu Deutsch Betrüger – ist der Namensgeber eines Phänomens, bei dem Menschen das Gefühl haben, trotz erwiesener Leistungen unfähig zu sein. Die „Symptome“, wenn man so will, beginnen bei Gefühlen der Unzulänglichkeit (die Kollegen sind besser, schlauer, schneller als ich) und reichen bis hin zu Panikattacken, weil man sich Herausforderungen nicht gewachsen fühlt, obwohl alle Voraussetzungen eigentlich dafürsprechen würden. Ging man in den 70er-Jahren noch davon aus, dass fast nur Frauen davon betroffen sind, weiß man heute, dass es auch Männer trifft. Auch Berühmtheiten und Stars ihres Fachs sind darunter, wie etwa Tom Hanks, Serena Williams oder Lady Gaga.
Selbstzweifel als Markenzeichen
Eine ständig präsente Angst von Menschen mit Impostor-Phänomen ist es, als Schwindler enttarnt zu werden. Da eigene Erfolge nicht als hausgemacht, sondern als pures Glück betrachtet werden, wandeln diese Betroffene auf sehr unsicheren Beinen durchs Leben. Sie fühlen sich wie Betrüger, die durch Schummeleien ihre Ziele erreicht haben – daher auch die Angst, dass andere ihnen bald auf die Schliche kommen werden und das ganze „Gerüst aus Unfähigkeit“ in sich zusammenbricht. Betroffene trauen sich weniger zu und bewerben sich trotz guter Qualifikationen nicht für höhere Posten.
Alternative Fakten
Wenn Sie selbst jemanden im Bekanntenkreis haben, der sich als Impostor wahrnimmt, dann werden Sie wissen: Mit Fakten allein kommt man nicht weit. Ich kenne die Situation aus eigener Erfahrung. Erstens, weil ich hochkompetente Freunde habe, die sich selbst als Hochstapler empfinden, und zweitens, weil ich selbst davon betroffen bin. Um es humorvoll auszudrücken: Wenn jemand im Büro weiß, wie man die Kaffeemaschine auseinandernimmt, ohne sich von oben bis unten mit brauner Matsche zu bekleckern, ist diese Person in meinen Augen bereits gottgesandt. Wenn ich es schaffe, trotz wahnsinnig engem Timing eine Deadline einzuhalten, war es in meinem Kopf reines Glück, nicht das durchgearbeitete Wochenende. Und wenn das megamühsame Projekt endlich nur mehr eine statt vier Korrekturschleifen braucht, liegt es in meinen Augen eher an der passenden Luftfeuchtigkeit als an meinem eigenen Vermögen.
Selbst die Tatsache, dass andere die Leistung würdigen, reicht oft nicht. Denn erstens reagieren Menschen mit Impostor-Phänomen auf erreichte Ziele nicht mit Stolz, sondern mit bloßer Erleichterung. Und zweitens lauern um die Ecke bereits die Selbstzweifel für die nächste Aufgabe. Und so werden Glück, Zufall und andere äußere Umstände als spielentscheidend betrachtet.
Reden hilft
Das Einzige, das die Sorgen minimieren kann, ist darüber zu sprechen. Denn Personen, die am Impostor-Phänomen leiden, sprechen anderen meist weit mehr Können und Intelligenz zu als sich selbst. Hier aus dem eigenen Schneckenhaus zu kommen, sich mitzuteilen und anderen zu eröffnen, wie es einem geht, kann manchmal zu einer kraftvollen Trendumkehr führen. Denn die meisten Menschen werden antworten, dass sie selbst oft Unsicherheiten haben. Dass sie sich selbst nicht in allen Bereichen kompetent fühlen. Und dass das auch okay ist.
Coaching hilft besser
An der Universität Salzburg haben drei Wissenschaftlerinnen das Impostor-Phänomen eingehender erforscht. Als wirksamster Lösungsansatz hat sich Coaching herausgestellt. Reflexionsübungen machen sichtbar, welche Erfolge bereits eingefahren wurden. Diese Übungen werden am besten täglich gemacht: nach der Arbeit, vor dem Zubettgehen. „Was ist mir heute gelungen?“, ist eine der beliebtesten Fragen in Tagebuchübungen von Kognitionspsychologen. Denn die Beantwortung macht eigene Fähigkeiten sichtbar und hilft uns, mehr Selbstwirksamkeit zu empfinden. Mit anderen Worten – an unsere eigenen Fähigkeiten zu glauben.
Mut zum Nichtkönnen
Scham führt oft dazu, dass Menschen nicht von sich aus sagen, wenn sie wo anstehen. Von anderen beschämt zu werden, als nicht klug oder gut genug zu gelten, ist für viele eine furchtbare Vorstellung. Das führt dazu, dass die Unzufriedenheit im Job wächst, man sich nur zögerlich an neue Herausforderungen wagt und schneller aufgibt. Können Menschen mit Impostor-Phänomen etwas wirklich nicht, merkt es das Umfeld kaum. Denn Betroffene neigen dazu, mit großem Aufwand in Überleistung zu gehen, sich einzulesen und vorzubereiten, um nicht „dumm dazustehen“. Dabei sollte ein für alle Mal klargestellt werden: Wir können nicht immer alles können. Zumindest nicht auf Anhieb. Und hier könnte folgender Ansatz helfen.
Vorsicht vor Momentaufnahmen
Da sich Menschen mit Impostor-Phänomen häufig mit anderen messen und so ihre Richtschnur ziehen, legen sie die Standards ziemlich hoch. Denn anderen bei der erfolgreichen Arbeit zuzusehen, ist immer nur eine Momentaufnahme. Nie sehen wir die Stunden an Arbeit, Vorbereitung und Übung, die in das Gelingen eines Vorhabens geflossen sind. Deshalb plädiere ich für die Lust am Scheitern, die Mut zum Probieren und zum Besserwerden. Und nochmals für den Austausch.
Routine statt Stegreif
Wenn Sie oft das Gefühl haben, andere können etwas besser, fragen Sie nach dem Geheimrezept. Meiner Erfahrung nach (ich hebe beispielsweise Menschen mit Sinn für Ordnung, Struktur und Gewissenhaftigkeit gerne auf ein goldenes Podest, weil ich mir selbst sehr schwer damit tue) liegt es oft nicht am wahnsinnig ausgeprägten Talent des Gegenübers, sondern an Routinen, Erfahrung und Übung. Diese Sicht hilft, dem Neuen den Schrecken zu nehmen. Denn dass niemand alles von Anfang an beherrscht, leuchtet uns allen ein.
Also: nur Mut. Machen Sie eine gesunde Routine daraus, regelmäßig an Ihre Errungenschaften zu denken, und seien Sie stolz auf Ihre Leistungen. Und fragen Sie Freunde und Kollegen nach Feedback. Die meisten Menschen wissen, wie es ist, sich unzulänglich zu fühlen. Sie sind deswegen keine Betrüger. Sie glauben nur noch nicht an sich.