Dass Abstand wichtig und wertvoll ist, lernen wir früh. Sehr früh. Denn das in Die-Wange-Zwicken der Urgroßtante und das Pochen derselben auf ein Küsschen lässt jedes Kleinkind erschaudern. Körperkontakt? Gern. Aber bitte nur, wenn uns wer sympathisch ist und nahesteht. Ansonsten ist Abstand angebracht. Wie viel davon, das hängt von ganz vielen Variablen ab.
Von „Komm näher“ bis „Igitt“
Jeder Mensch ist anders. So auch sein Bedürfnis nach Abstand und Nähe. Es gibt Menschen, die einem beim einfachen „Hallo“ schon so auf die Pelle rücken, dass man schnell mal sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand steht. Mein Mathelehrer war so einer. Blöd nur, dass er nicht gerade ein Sympathieträger war. Das machte es umso schlimmer. Und dann sind da diejenigen, denen man auch nach längerem Kennenlernen noch nicht allzu nahetreten darf. Sie schätzen ihren persönlichen Raum und brauchen Abstand zum Gegenüber, um sich wohlzufühlen.
Verkehrszone Mensch
Die Wissenschaft der Proxemik (Distanzlehre) unterscheidet vier Distanzzonen:
- Intimzone: Hier dürfen wirklich nur die Liebsten rein. Der Abstand zum Gegenüber beträgt 0 bis 45 Zentimeter – Partner, Familie, beste Freunde. Nur mit Menschen, die in die Intimzone eindringen dürfen, wird sehr innig geredet, gekuschelt oder noch mehr auf Tuchfühlung gegangen.
- Persönliche Zone: Strecken wir die Arme aus und drehen uns einmal im Kreis, beschreiben wir circa die persönliche Zone. Diese ist für Freunde reserviert. Wir nennen sie auch Komfortzone. Aber Achtung: Je nachdem, wie wir uns gerade fühlen, kann diese Zone einmal größer oder kleiner sein.
- Soziale Zone: Hier fühlen wir uns auch mit Fremden wohl. Ihr Radius beträgt circa 1,5 bis 3,5 Meter und beschreibt auch den Raum, den wir in Situationen einnehmen, wenn wir höflich und förmlich sein möchten.
- Öffentliche Zone: Darunter fällt alles, was über 3,5 Meter hinausgeht (bspw. öffentliche Anlässe, Vorträge).
Nähe, Abstand und Stress
Körperliche Nähe ist (überlebens-)wichtig, hilft uns beim Entspannen und spielt bei der Entwicklung sozialer und kognitiver Fähigkeiten im Kindesalter eine zentrale Rolle. Aber auch Abstand kann sehr wohltuend sein. Das merke ich vor allem bei jenen Freunden, die generell eher viel Zeit und Raum für Rückzug brauchen – und in Zeiten von Social Distancing plötzlich weit entspannter sind, Lockdown und Homeoffice hin oder her. Zu viel körperliche Nähe (vor allem zu Fremden oder auch Menschen, mit denen man keinen engen Kontakt pflegt) setzt manchen von uns einfach zu. Hier war die Pandemie vielen ein Augenöffner. Das „Aha, so viel Abstand und so viel Kontakt tun mir also gut“ hätte es vor Corona wohl nicht gegeben.
Kultur und Distanz
Nicht nur persönliches Befinden macht einen Unterschied, wie nah wir anderen kommen wollen. Der kulturelle Hintergrund ist laut Forschern der prägendste Aspekt in puncto Komfortzone. So ist der Abstand, den Menschen aus Saudi-Arabien zu ihren Liebsten einhalten, größer als jener, den Argentinier intuitiv zu Fremden einnehmen. Und obwohl Nordeuropa zu den eher distanzierteren Gegenden gehört, stechen Norweger mit einem relativ gering ausfallenden Distanzbedürfnis aus der Menge. Was aber über alle Landesgrenzen hinweg gleich ist: Frauen halten zu Fremden intuitiv mehr Abstand als Männer. Und – Frauen unter sich kommen einander weit näher, als Männer das mit ihresgleichen tun.
Nur nicht beim Chef anstreifen
Einmal über seinen ganz eigenen persönlichen Raum nachzudenken, ist sehr sinnvoll. Denn oft merken wir gar nicht, wenn wir jemandem zu nahekommen oder – das kommt auch vor – wenn wir vielleicht etwas zu distanziert auftreten. Wie bereits angesprochen, entscheiden vor allem kulturelle Hintergründe, wie kuschelig wir’s gerne haben. Aber auch Geschlecht und Status spielen eine Rolle. Gibt es Menschen, die durch ihre Umgänglichkeit und Gelassenheit nahbarer wirken und uns intuitiv anziehen, führen Macht und Dominanz oft zum gegenteiligen Effekt. Dachte man früher, dass „Ranghöhere“ andere auf Distanz halten, weiß man heute: Das Gegenteil ist der Fall. Der Chef wird eher von den Mitarbeitern gemieden, nicht umgekehrt.
Wenn uns wer zu nahekommt
Eingangs habe ich bereits den Mathelehrer erwähnt, der andere mit seiner Distanzlosigkeit gegen die Wand gespielt hat. So etwas ist wirklich sehr unangenehm, wenn Sie die bedrängte Person sind. Und das ist nicht nur ein emotionales Befinden, mit dem wir uns konfrontiert sehen. Millionen von Zellen auf unserer Haut haben genau diese Aufgabe: uns andere vom Leib zu halten. Fast so wie eine Alarmglocke beginnen die Zellen auszuschlagen, sobald uns jemand zu nahetritt. Je näher die Person kommt, desto heftiger feuern die Zellen. Wir weichen intuitiv zurück, nehmen Schutzhaltungen ein (hochgezogene Schultern, verschränkte Arme, bei empfindsamen Personen auch das Gefühl von Beklemmung und Panik) und versuchen, uns aus der Affäre zu ziehen. Hier ist es wichtig, dass Sie Ihren Empfindungen Ausdruck verleihen und freundlich, aber bestimmt etwas mehr Abstand einfordern. Denn nicht nur in Pandemie-Zeiten gilt: Respektieren Sie den Baby-Elefanten. Oder die Weidekuh. Oder was immer Ihnen hilft, Ihrem Gegenüber Raum zu geben.
UNSERE BUCH-TIPPS:
- Graziano, M. S. A. (2018): The Spaces Between Us: A Story of Neuroscience, Evolution, and Human Nature. Oxford University Press.
- Sorokowska et al. (2017): Preferred Interpersonal Distances: A Global Comparison, Journal of Cross-Cultural Psychology. 48.