Wir hören nicht immer das, was gesagt wird. Wir sagen nicht immer das, was wir meinen. Wir filtern, interpretieren, schmücken aus, lassen weg, hören nur halb hin und sagen nur die halbe Wahrheit. Kein Wunder also, dass Missverständnisse sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben für viele von uns an der Tagesordnung stehen. Aber muss das sein? Nicht unbedingt. Schulz von Thuns Vier-Ohren-Modell bringt Licht in das Mysterium unserer Kommunikation und hilft uns so dabei, einander besser zu verstehen.
Eine Aussage – vier Ohren – vier Münder
Nach Herrn Schulz von Thun haben wir nicht nur vier Ohren, sondern auch vier Münder. Damit meint er natürlich nicht tatsächliche Körperteile. Vielmehr handelt es sich um Metaphern, die uns verschiedene Aspekte unserer Kommunikation verdeutlichen sollen. Wenig überraschend stehen die Ohren für das Gehörte, die Münder für das Gesagte.
Nach dem Vier-Ohren-Modell (auch als Vier-Seiten-Modell, Nachrichten- oder Kommunikationsquadrat bekannt) enthält jede Aussage vier Ebenen – und das sowohl auf der Seite des Senders (Sprecher mit „vier Mündern“) als auch auf der Seite des Empfängers (Zuhörer mit „vier Ohren“). Logischerweise bewegen wir uns nicht immer auf derselben Ebene – und so entstehen Missverständnisse. Sätze wie „Das habe ich so nicht gesagt“ oder „Das habe ich anders verstanden“ deuten darauf hin, dass wir zumindest unterbewusst wissen, dass es diese unterschiedlichen Ebenen gibt. Dank des Vier-Ohren-Modells können wir sie uns auch aktiv ins Bewusstsein rufen und somit besser kommunizieren.
Die vier Ebenen oder Seiten einer Nachricht laut Schulz von Thun sind: die Sachebene, die Selbstoffenbarung, der Beziehungshinweis und der Appell. Was genau damit gemeint ist, sehen wir uns im Folgenden näher und anhand eines Beispiels an.
Jetzt geht’s zur Sache: die Sachebene
Die Sachebene bezieht sich auf konkrete Informationen, Fakten oder einen Sachverhalt, der kommuniziert wird. Zum Beispiel: „Die Sonne scheint“ – eine an und für sich neutrale Aussage über das aktuelle Wetter. Allerdings bleiben die wenigsten Aussagen auf dieser Ebene – da sowohl der Sender als auch der Empfänger bewusst oder unbewusst andere Aspekte miteinbeziehen.
Ich über mich: die Selbstoffenbarung
Diese Ebene bezieht sich darauf, was der Sprecher in seiner Aussage über sich selbst – seine momentanen Gefühle und Empfindungen – oder seine Persönlichkeit und Präferenzen im Allgemeinen preisgibt bzw. was wir als Hörer über ihn erfahren.
Hier können die ersten Unterschiede zwischen dem „Mund“ des Sprechers und dem „Ohr“ des Zuhörers entstehen. Zum Beispiel könnte der Sprecher mit „Die Sonne scheint“ meinen, dass er dieses Wetter als angenehm empfindet. Der Zuhörer hingegen könnte hören, dass ihn das Licht der Sonne blendet.
Ich über uns: der Beziehungshinweis
Hier wird es besonders spannend. Mit dem „Beziehungsmund“ drücken wir – beispielsweise durch Tonfall, Formulierung oder Körpersprache – aus, wie wir zu unserem Zuhörer stehen. Das „Beziehungsohr“ nimmt das wiederum auf seine eigene Art wahr und fühlt sich entsprechend respektiert oder herabgesetzt, willkommen oder abgelehnt.
Um bei unserem Beispiel zu bleiben, könnte die Person, die sagt, dass die Sonne scheint und dies als angenehm empfindet, meinen: „Ich schätze dich und möchte daher etwas, das mir Freude bereitet, mit dir teilen.“ Die Zuhörerin hingegen, die den Sonnenschein als blendendes Licht interpretiert hat, versteht es hingegen als Beschwerde und schlussfolgert daraus womöglich sogar, dass er beschuldigt wird (z. B. „Du hast meinen Platz besetzt – deshalb blendet mich jetzt die Sonne. Du bist egoistisch und machst mir das Leben schwer.“)
Was ich eigentlich will: der Appell
Der Appell ist meist der eigentliche Grund, warum wir etwas sagen. Es ist das, wozu wir unser Gegenüber veranlassen wollen. Das „Apell-Ohr“ des Zuhörers versucht gleichzeitig herauszufinden, was der Sprecher von ihm will, was er seiner Ansicht nach tun, sagen, denken oder fühlen soll.
In unserem Sonnenschein-Beispiel könnte der Sender meinen: „Geh’ mit mir nach draußen!“ Der Empfänger hingegen versteht aufgrund seiner bisherigen Interpretation: „Geh’ weg von meinem Platz!“ So entstehen zwei vollkommen unterschiedliche Appelle: Der Sender wünscht sich eigentlich Nähe und gemeinsame Zeit, der Empfänger glaubt, dass er unerwünscht ist und zieht sich zurück – ein klassisches Missverständnis, das auf beiden Seiten für Frust sorgen kann.
Die vier Ohren angewandt – Übung macht den Meister
Wie so oft ist das Bewusstsein der erste Schritt zur Veränderung. Sobald man weiß, dass es mehrere Ebenen gibt, fällt es leichter, sich für andere Perspektiven zu öffnen und den eigenen Standpunkt nicht mit der ultimativen Wahrheit zu verwechseln.
Um sich dieses Modell aber tatsächlich zunutze zu machen, braucht es aber auch – wie so oft – Übung und Zeit. Ein Teil dieser Übung kann intern und für sich passieren. Zum Beispiel können Sie es sich zur Gewohnheit machen, immer wieder kurz innezuhalten und sich selbst zu fragen: „Hat er/sie das wirklich so gesagt, wie ich es verstehe? Mit welchem Ohr habe ich das gerade gehört? Wie könnte es sonst noch gemeint sein?“ Das kann vor allem in Situationen, in denen wir uns angegriffen fühlen, hilfreich sein.
Der nächste, vielleicht etwas schwierigere, aber definitiv wertvolle Schritt ist es, diese Fragen auch nach außen zu tragen. Denn solange wir unser Gegenüber nicht fragen, was es wirklich meint, werden wir unsere Wahrnehmung immer auf unserer eigenen – tendenziell falschen – Interpretation aufbauen. Einfache Fragen, z. B „Wie meinst du das?“ „Was möchtest du damit sagen?“ oder „Was wünscht du dir von mir?“, können tatsächliche Wunder wirken – sofern sie aus ehrlicher Neugierde und nicht mit unterschwelliger Verurteilung gestellt werden.
Auch als Sprecher lohnt es sich, präziser zu werden und auf die verschiedenen Ebenen konkret einzugehen, anstatt vom Zuhörer zu erwarten, unsere Gedanken zu lesen. Ein Satz wie „Die Sonne scheint – voll schön! Ich würde das angenehme Wetter grad echt gern mit dir genießen. Hast du Lust, gemeinsam rauszugehen?“ lässt weniger Raum für Missverständnisse.
Das klingt auf den ersten Blick vielleicht komisch, weil die wenigsten von uns es gewohnt sind, klar zu kommunizieren. Ich lade Sie trotzdem ein, es mal auszuprobieren. (Nur so zur Info: Das war jetzt ein Appell.) Vielleicht gewöhnen wir uns ja daran. Und vielleicht verstehen wir einander dann ein bisschen besser. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.