Wir alle kennen Menschen, die Schicksalsschläge erlebt haben: das Verlieren eines Elternteils in jungen Jahren, das Überleben von Krieg, der Schock einer Krebsdiagnose aus heiterem Himmel. Je nachdem, wie wir gestrickt sind, reagieren wir sehr unterschiedlich auf Traumata. Wir sehen uns heute an, warum ein Trauma uns nicht langfristig negativ beeinflussen muss, welche Schritte in der Heilung notwendig sind und in welchen Bereichen Betroffene besonders wachsen können.
Wachstum trotz Trauma
Posttraumatisches Wachstum wird seit den 1990er-Jahren untersucht. Beim posttraumatischen Wachstum spricht man von graduellen positiven Veränderungen im Leben der Betroffenen, die erst aufgrund des Traumas und der nachfolgenden Heilungsphase einsetzen konnten. Beginnen wir aber bei den Fachbegriffen. Ein Trauma ist ein einschneidendes Erlebnis, das erheblichen Einfluss auf den betroffenen Menschen hat. Man spricht hier auch von einer starken körperlichen, psychischen oder seelischen Erschütterung. Wichtig: Posttraumatisches Wachstum ist nicht Resilienz.
Resilienz bewahrt uns im besten Fall als psychologischer Schutzschild davor, ein Trauma überhaupt als solches zu erleben. Betroffene berichten aber davon, dass das überstandene Trauma die eigene Resilienz stärken kann. Das rührt daher, dass die Achsen auf der „Wie schlimm kann etwas werden“-Skala verschoben werden.
Der erste Kontakt
Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe ich posttraumatisches Wachstum bei einer lieben Freundin, die mit gerade einmal 22 Jahren an Krebs erkrankt war. Im Laufe der folgenden Monate und Jahre hat sie jede Traumaphase durchlebt, die im Lehrbuch steht. Vom totalen Überlebensmodus über Verdrängung bis hin zum Eingestehen, Akzeptieren und Aufarbeiten des Traumas – ihr blieb nichts erspart. Aber es zeigt sich: Es war nicht umsonst.
Vielschichtige Veränderungen
Das posttraumatische Wachstum hat sich auch bei meiner Freundin auf unterschiedlichen Ebenen abgespielt. Innerhalb von 18 Monaten nach der Diagnose saß mir plötzlich ein veränderter Mensch gegenüber. Es war, als hätte sie zehn Jahre an Reife gewonnen, an Einsicht und Akzeptanz für das schier Inakzeptable. In den kommenden Jahren konnte ich feststellen, wie sie vergebender wurde, mehr auf sich zu schauen begann, Kleinigkeiten zu schätzen lernte und sich ein noch stärkeres Band zu ihrer Familie aufgebaut hatte. Im Gespräch blieben mir vor allem jene Aussagen präsent: „Man verändert sich nicht als Person. Aber Dinge verschieben sich, Gewichtungen ändern sich. Und Vergleiche mit anderen fallen plötzlich weg. Weil es einfach nichts bringt. Null.“
Von der faulen Wurzel zur süßen Frucht
Die These des posttraumatischen Wachstums ist ein wenig wie der Gegenpart zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen (z. B. Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen als psychische Reaktionen auf ein Trauma). Versucht man bei Letzterem, das Übel an der Wurzel zu packen und ihm den Schrecken zu nehmen (Konfrontation in geschütztem Rahmen), arbeitet man beim posttraumatischen Wachstum sozusagen an der Kultivierung der Früchte, die trotz aller Widrigkeiten aus diesen Wurzeln entstehen können. Die Wissenschaft unterscheidet dabei die fünf Bereiche
- Persönliches Wachstum
- Beziehungen zu anderen
- Die Fähigkeit, neue Möglichkeiten zu erkennen
- Das Leben an sich wertschätzen zu lernen
- Spirituelles Wachstum
Wie kommt es zum Wachstum?
Posttraumatisches Wachstum bezeichnet keinen fixen Zustand. Es handelt sich um einen Prozess, der sich aus der Verarbeitung eines Traumas und den damit einhergehenden Adaptationen der eigenen Psyche und des Verhaltens ergibt. Die Adaptationen passieren im Schneckentempo. Während man anfangs mit dem Überleben und Überstehen des Traumas beschäftigt ist, kann sich die Psyche erst mit genügend Abstand erholen und in gewissen Bereichen vielleicht sogar wachsen. Oft ist der sinnbildliche Sprung über eine Mauer erst dann möglich, wenn viel mehr in Trümmern liegt. Die Erschütterungsintensität ermöglicht es Menschen manchmal erst, bisherige Glaubenssätze zu hinterfragen und als nicht in Stein gemeißelt oder vielleicht sogar als ungesund für ein erfülltes Leben zu erkennen.
Besonders wichtig auf diesem Weg ist die Möglichkeit, sich mit Vertrauenspersonen austauschen zu können. Freunde, Familie, Psychologen – sie alle können Halt geben, Trost spenden, zuhören und helfen, gemeinsam einen Ausweg aus der vermeintlich ausweglosen Situation zu finden.
Akzeptanz als Grundstein
Ein besonders schwieriger Teil der Aufarbeitung ist die Akzeptanz der Situation. Nicht davonzulaufen, nicht die Augen zu verschließen, sondern zu akzeptieren, was passiert ist und dass es passiert ist. Hier kommen die eigenen Glaubenssysteme ins Spiel. Etwas so Unvorhergesehenes wie eine Krebsdiagnose mit Anfang zwanzig passt so gar nicht in unser Werte- und Glaubenssystem. Ein junger, aktiver, gesunder Mensch – wie kann das sein? Und: Darf das überhaupt sein? Um diesen neuen Umstand begreifen und akzeptieren zu können, müssen wir mitunter unser komplettes Selbstverständnis über Bord werfen.
Wertfrei heilen
Bleiben wir bei der Krebsdiagnose, müssen wir lernen, dass wir nicht weniger wert sind, nur weil der Körper plötzlich nicht mehr so tut, wie wir das wollen. Dass das Streben nach Perfektion nicht der Lebensmittelpunkt sein kann. Dass wir auch Raum haben dürfen, um uns fallenzulassen, ohne sofort zur Problemlösung übergehen zu müssen. Wir können uns selbst helfen, indem wir lernen, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Und das heißt vor allem, sie wertfrei zu sehen. Nicht „Ich bin eine Bürde, weil ich krank bin. Alle anderen starten in der Arbeit durch, nur ich schaffe nichts. Es ist ein Jahr vergangen und ich habe immer noch Albträume“. Sondern „Meinem Körper geht es derzeit nicht so gut wie sonst. Die anderen arbeiten, weil sie in einer anderen Situation sind als ich. Was sie brauchen, ist nicht das, was ich gerade brauche.“
Die Psychologie arbeitet mit wertfreien Betrachtungen, um unnötigen negativen Ballast von unseren Gedanken fernzuhalten. Was bei all diesen Schritten Richtung Heilung eine wichtige Rolle einnimmt, ist die Fähigkeit, sich selbst anzunehmen oder sogar lieben zu lernen. Denn: „Wenn du so eine Diagnose überstehen willst, musst du lernen, mit dir zu arbeiten statt gegen dich. Das geht nur, wenn du dich selbst gern hast.“
Fazit
Posttraumatisches Wachstum ist möglich. Das ist wichtig für all jene, die Schreckliches erlebt haben: Trauma bedeutet nicht, dass wir daran zerbrechen müssen. Gleichzeitig ist aber wichtig festzuhalten, dass für das gesunde Überstehen von Traumata nicht nur der eigene Wille, sondern auch das Umfeld entscheidend sind. Gibt es keine Möglichkeiten, sich auszutauschen, sich sicher zu fühlen, Akzeptanz zu entwickeln und sich selbst anzunehmen, bis man wieder mit beiden Beinen am Boden steht, erschwert das die Überwindung eines Traumas. Aber auch hier gilt – bleiben Sie dran. Haben Sie keine Angst vor Rückschritten, diese sind normal. Suchen Sie Hilfe bei Freunden, der Familie, psychologisch geschulten Experten. Und vergessen Sie nicht, eigene kleine Erfolge auch als solche anzuerkennen. Denn jede Reise beginnt mit einem einzelnen Schritt.