„Geschmäcker sind verschieden“, heißt es oft, wenn man sich nicht einig ist. Damit sind etwaige Differenzen dann meist akzeptiert. Man versteht, dass Kleidungsstile, Freizeitbeschäftigungen oder Musikpräferenzen von Person zu Person unterschiedlich sind. Da kann man niemandem etwas ein- oder ausreden. Es ist einfach, wie es ist, und das nimmt man so zur Kenntnis.
Viele Ansichten – doch welche ist richtig?
Nur wenn es um die „richtige“ Ernährung geht, ist das scheinbar anders. Selbstverständlich sind auch und gerade, wenn es ums Essen geht, die Geschmäcker verschieden. Aber da ist man dann weniger verständnisvoll. Wenn wir glauben, endlich die eine, ultimative Wahrheit über die ideale Ernährungsweise gefunden zu haben, halten wir mit fast krampfhafter Überzeugung daran fest. Man könnte fast meinen, Ernährung sei die neue Religion geworden.
Und sollten wir dann jemandem gegenübersitzen, der andere oder gar gegensätzliche Ansichten hat, kann schon der eine oder andere verbale Krieg am Esstisch ausbrechen. Was für mich gerade passt, hat gefälligst für die gesamte Weltbevölkerung bis zum Ende aller Tage auch zu passen. Immerhin habe ich mit der neuen Diät ja auch die Weisheit mit dem Löffel gefressen.
7,8 Milliarden Menschen – eine Ernährungsweise?
7,8 Milliarden Menschen in 194 Ländern – eine „richtige“ Ernährungsweise. Klingt plausibel. Oder vielleicht doch nicht? Tatsächlich haben eine Vielzahl von Faktoren wie zum Beispiel unsere individuelle Körperzusammensetzung, unser Lebensstil, Alter, Geschlecht und geografischer Aufenthaltsort einen entscheidenden Einfluss darauf, was unser Körper braucht. Die optimale Ernährung eines Säuglings sieht anders aus als die eines Erwachsenen. Menschen in Asien essen traditionellerweise nicht dasselbe wie jemand in unseren Breitengraden. Der Bedarf eines Sportlers unterscheidet sich von jenem eines Büroangestellten. Vielleicht ist das mit der einen, ultimativen Wahrheit über die ideale Ernährungsweise ungefähr so wie mit der Gans, die goldene Eier legt: nichts als ein Mythos.
7,8 Milliarden Menschen – 7,8 Milliarden Ernährungsweisen
Die genannten Aspekte sind nur einige Beispiele für ein Konzept, womit sich die Ernährungswissenschaft seit einiger Zeit immer intensiver auseinandersetzt: die sogenannte Bio-Individualität. Wie die Bezeichnung vermuten lässt, geht es dabei darum, dass jeder Körper einzigartig ist und es deshalb auch keine Universallösung für die perfekte Ernährungsweise geben kann.
Das „Personalized Nutrition Project“ beispielsweise, eine Langzeit-Studie israelischer Forscher, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dieser Thematik. Mehr als 1.000 Personen und 50.000 Mahlzeiten wurden bisher untersucht. Das Ergebnis: Dieselben Nahrungsmittel werden von verschiedenen Personen unterschiedlich aufgenommen. Laut Eran Segal, dem Leiter dieses Forschungsprojekts, hängen diese Unterschiede vor allem mit der individuellen Zusammensetzung des Mikrobioms zusammen. Dass die Darmflora einen wesentlichen Einfluss auf unsere Verdauung und Gesundheit hat, ist nicht neu. Dennoch ist uns nicht immer bewusst, wie weitgreifend dieser ist. Wenn man allerdings bedenkt, dass wir rund zehnmal so viele Bakterien wie menschliche Zellen in uns tragen, sollte das nicht weiter überraschen.
Die Zusammensetzung dieser Bakterien wird von einer Vielzahl verschiedener Faktoren beeinflusst und ist bei jedem Menschen einzigartig. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur logisch, unsere Bio-Individualität auch in der Ernährung zu berücksichtigen. Erste Versuche, dies zu tun, findet man in Ayurveda und TCM oder der Blutgruppen-Diät.
Eine gute und eine schlechte Nachricht
Das Konzept der Bio-Individualität vermittelt uns eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Niemand kann uns vorschreiben, was wir essen sollen. Kein Experte der Welt kennt uns besser als wir selbst.
Die schlechte (oder herausfordernde) Nachricht ist: Wir sind somit selbst dafür verantwortlich, herauszufinden, wie unsere optimale Ernährung in jeder Lebensphase aussieht. Kein Diät-Ratgeber und kein Fitness-Blogger kann uns diese Entscheidung abnehmen.
Vielleicht sind Geschmäcker ja deshalb verschieden, weil auch wir es sind. Und vielleicht sollte diese Verschiedenartigkeit sich auch und vor allem auf unseren Tellern widerspiegeln.
Vielleicht deuten unsere Vorlieben darauf hin, was wir brauchen. Und vielleicht ändert sich das auch, je nachdem, wo und wie alt wir sind, was wir tun und wie es uns geht. Vielleicht funktioniert für dich Keto und für mich vegan. Und vielleicht ist es in fünf Jahren dann umgekehrt. Ist doch auch schön, dass unsere Ernährung genauso vielfältig sein kann, wie wir selbst.
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